Der Pflegebedürftigkeitsbegriff, gegenwärtig formuliert in § 14 SGB XI, stellt die wesentlichste Komponente in dem normativen Konstrukt der sozialen Pflegeversicherung dar. Gleichzeitig gilt dieser Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Öffentlichkeit und unter Experten als besonders umstritten: Zu eng, zu verrichtungsbezogen, zu einseitig auf körperliche Gebrechen ausgelegt, zu geringe Berücksichtigung der sozialen Teilhabe und der Kommunikation – das sind nur einige der zahlreichen Kritikpunkte, die im Übrigen auch für das mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff verbundene Begutachtungsinstrument gelten.
Mit dem am 11.11.2005 zwischen CDU/CSU und SPD geschlossenen Koalitionsvertrag hatte die Politik auf die Kritik reagiert und eine mittelfristige Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs in Aussicht gestellt. Dieser neue Begriff sollte u.a. für eine gerechtere Gestaltung des besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarfs von beispielsweise Demenzkranken sorgen und die aktuellen Erkenntnisse der Pflegewissenschaften berücksichtigen. 2009 legte ein vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs einberufenes Expertengremium nach rund dreijähriger Beratung einen Umsetzungsbericht vor. Um die in dem Bericht aufgeworfenen Fragestellungen, insbesondere zur Praxistauglichkeit des „Neuen Begutachtungsinstruments“ (NBA) zu klären, installierte das BMG 2012 ein weiteres Expertengremium. Dieses übergab am 27.6.2013 seinen „Bericht zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ an das BMG.
Im vergangenen Jahr hat nun der amtierende Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe Grünes Licht für zwei Erprobungsstudien gegeben: Mit der „Praktikabilitätsstudie zur Einführung des neuen Begutachtungsassessments (NBA) zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ sollten mögliche Probleme bei der Begutachtung frühzeitig aufgedeckt werden, damit gegebenenfalls notwendige Änderungen und Anpassungen bereits vor der Einführung des neuen Begriffs vorgenommen werden können. Diese Studie wurde vom Medizinischen Dienst des GKV-Spitzenverbandes in Essen unter Beteiligung der Hochschule für Gesundheit in Bochum durchgeführt. Die Stichprobe im Projekt umfasste insgesamt 2000 pflegebedürftige Menschen in ganz Deutschland, bei denen eine Begutachtung nach dem neuen und dem derzeit gültigen Verfahren durchgeführt wurde.
Parallel dazu wurde die Studie „Evaluation des NBA – Erfassung von Versorgungsaufwendungen in stationären Einrichtungen“ durchgeführt. Diese sollte Hinweise für künftige Leistungshöhen je Pflegegrad in Abhängigkeit vom Pflegeaufwand ermitteln. Bei der von der Universität Bremen unter Beteiligung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfsburg durchgeführten Studie wurde in Zusammenarbeit mit den Medizinischen Diensten der Krankenkassen bundesweit in rund 40 Pflegeheimen bei knapp 1600 Personen erfasst, welche Leistungen sie heute bekommen und welche Leistungen und welchen Pflegegrad sie nach dem NBA bekommen würden.
Beide Studie sind inzwischen fertiggestellt und wurden dem Bundesgesundheitsministerium übergeben. Dazu erklärt Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes: „Die wissenschaftliche Basis ist geschaffen und die fachlichen Vorarbeiten sind abgeschlossen. Jetzt kann der Gesetzentwurf zügig kommen.“ Die Chancen stehen dafür gut – das Bundeskabinett hat Ende April eine Vorziehregelung zum Pflegestärkungsgesetz II beschlossen. Durch das Pflegestärkungsgesetz II soll noch in dieser Legislaturperiode der neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungssystem eingeführt werden. Mit einem Inkrafttreten ist jedoch nicht vor 2017 zu rechnen.